Kinderhospiz München: Wann haben Sie erfahren, dass Ihr Kind nicht gesund ist?
Shabnam und Wolfgang Arzt: Bei einer Routineuntersuchung im achten Schwangerschaftsmonat stellte die Ärztin zu viel Fruchtwasser fest. Wir wurden zu einer Praxis für Pränataldiagnostik überwiesen. Die Untersuchung verlief ohne sichere Diagnose, die Aussage, unsere Tochter sei nicht lebensfähig stand im Raum. Gewissheit über die Diagnose „Trisomie 18“ brachte die Blutuntersuchung eine Woche nach der Geburt.
Wie war damals die Prognose?
Shabnam und Wolfgang: Die Prognose entsprach den Lehrbüchern: Wenige Stunden, Tage, Wochen, maximal Monate. Jaël würde ihren ersten Geburtstag höchstwahrscheinlich nicht erleben.
Wann haben Sie entschieden, das Kind zu bekommen?
Shabnam und Wolfgang: Für uns war zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft klar, dass wir unsere Tochter kennenlernen möchten. Selbst wenn sie nur ein paar Stunden leben würde. Wir hatten bereits früh eine Beziehung zu ihr aufgebaut, sie war unser absolutes Wunschkind.
Welche besonderen Eigenschaften hat Jaël mitgebracht?
Shabnam und Wolfgang: Jaël machte es uns und allen, die ihr begegneten einfach, sie ins Herz zu schließen. Sie war eine Meisterin der Lebensfreude und konnte Menschen mit ihren dunklen, funkelnden Augen und ihrer Fröhlichkeit anstecken. Umarmen hatte ihr niemand beigebracht, es wurde zu ihrem Markenzeichen. Nach jeder Mahlzeit gab es eine Umarmung, und immer, wenn man sich zu ihr beugte.
In ihrer Todesanzeige steht, dass sie bis zu ihrem letzten Atemzug ihre Liebe wie Konfetti auf uns geworfen hat. Und genauso war es.
Was hat Sie dazu veranlasst, das Buch zu schreiben? Wann kam Ihnen erstmals der Gedanke?
Shabnam und Wolfgang: Wir fühlen uns durch die 13 Jahre mit unserer Tochter reich beschenkt. So paradox es klingen mag: Von einem sterbenskranken Kind lässt sich viel für das Leben lernen. Unsere Lernerfahrungen wollten wir gerne festhalten und mit anderen teilen. Freunde, die mit Jaël aufgewachsen waren, baten uns, ein Buch zu schreiben, damit sie ihren eigenen Kindern das Mädchen vorstellen können, das sie so sehr geprägt hat. Dazu kommt, dass wir früh begonnen hatten, unsere Erfahrungen in einem Blog zu teilen. Wir bekamen positive Rückmeldungen von anderen Betroffenen, die daraus Kraft für ihre eigene Situation schöpften. Alles zusammen machte die Sache für uns rund.
Was erhoffen Sie sich von dem Buch?
Shabnam und Wolfgang: In unserer Gesellschaft ist das Thema Sterben, besonders wenn Kinder betroffen sind, ein Tabuthema. Kranke Kinder haben keine Lobby. Wir wünschen uns, dass dieses wichtige Thema und damit auch die betroffenen Familien nicht am Rande bleiben, sondern Aufmerksamkeit erhalten und damit auch Würde erfahren. Mehr als 20.000 Kinder leben in Deutschland mit einer lebensverkürzenden Erkrankung. Die Familien benötigen Unterstützung aus allen Teilen der Gesellschaft. Dazu möchten wir gerne einen Beitrag leisten. Leserinnen und Leser melden uns außerdem zurück, dass das Buch ihnen hilft, für sich neu zu entdecken, worauf es im Leben ankommt. Das macht uns froh.
Was ist Ihr Wunsch an die Pränatalmedizin?
Shabnam und Wolfgang: Die Entdeckung, dass das Leben nicht schwarz-weiß ist, sondern bunt und vielfältig. Eine Diagnose hat noch keine Aussagekraft über die Liebenswürdigkeit und den Wert eines Menschen. Wie genau eine Krankheit oder Behinderung sich nach der Geburt auswirkt, kann kein Mediziner vorhersehen. Keiner von den Ärzten hat uns gesagt, wie wundervoll unsere Tochter sein würde.
Die Lesung startet am 21. November 19 um 19:00 Uhr in der Seidlvilla in München. Im Anschluss findet eine Gesprächsrunde statt. Teilnehmen werden Christine Bronner, Stifterin und geschäftsführender Vorstand Stiftung Ambulantes Kinderhospiz München, Ehepaar Shabnam und Wolfgang Arzt, Dr. Karl Eder Geschäftsführer Landeskomitee der Katholiken in Bayern sowie Dr. Mira Hauser, langjähriges Mitglied des SAPPV-Teams, LMU-Klinikum Campus Großhadern. Moderation: Sybille Giel, Bayerischer Rundfunk.